Kinder- und Hausmärchen
Zwischen Volksüberlieferung und Kunstform
Hessische, deutsche oder europäische Märchenstoffe?
Jacob und Wilhelm Grimm waren nicht die ersten, die volkstümliche Erzählungen nach schriftlichen und mündlichen Quellen aufzeichneten und bearbeiteten. Aber mit ihrer Märchensammlung beginnt die systematische und wissenschaftlichen Prinzipien verpflichtete Aufsammlung der sog. "Poesie des Volkes", - der Märchen, Sagen, Legenden, Lieder, Rätsel, Sprüche und anderer volkstümlicher Dichtungen.
Elemente von Märchen und Sagen lassen sich in den verschiedensten literarischen Verkleidungen schon lange vor den Brüdern Grimm nachweisen. Gattungsmäßig eigenständige Märchentexte kristallisieren sich im 16. und 17. Jahrhundert heraus. Für Europa prägend sind zunächst die großen orientalischen und romanischen Sammlungen von Märchen, Sagen und anderen Wundergeschichten, die spätestens im 18. Jahrhundert die literarische und die nichtliterarische Tradition in vielen Ländern deutlich beeinflußt haben.
Die schriftliche Fixierung - das "Aufschreiben" - mündlich tradierter Erzählstoffe steht jedoch immer in Zusammenhang mit den literarischen Strömungen der jeweiligen Epoche. Märchen, Sagen, Legenden und andere volkstümliche Dichtungen müssen daher stets aus dem spezifischen ästhetischen Blickwinkel ihrer Zeit betrachtet und in ihrer konkreten verschriftlichten Textgestalt kritisch bewertet werden. Dies zeigen beispielsweise die barock stilisierten Märchenerzählungen von Gianfrancesco Straparola und Giambattista Basile aus dem 16. und 17. Jahrhundert ebenso wie die galanten und häufig ironisch nacherzählten sog. "Feenmärchen" von Charles Perrault und anderen Dichtern der französischen Salonliteratur des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Obwohl sie motivisch und stofflich wenigstens teilweise aus volkstümlichen Quellen geschöpft zu sein scheinen, zeigen sie in Sprache und Komposition dennoch die elegante Erzählhaltung der Kunstprosa ihrer Zeit.
Bevor schließlich auch in Deutschland eigenständige Märchensammlungen erschienen, wurden zunächst vor allem die französischen "Feenmärchen" sowie die ebenfalls über Frankreich vermittelten orientalischen Märchen aus der Sammlung der Tausend und eine Nacht und anderer in deutschen Übersetzungen verbreitet. Von 1782 bis 1787 gab dann der Weimarer Gymnasialprofessor Johann Carl August Musäus seine Volksmärchen der Deutschen in fünf Bänden heraus, und ebenfalls fünfbändig erschienen hernach von 1789 bis 1793 die Neuen Volksmärchen der Deutschen der Leipziger Unterhaltungsschriftstellerin Benedikte Naubert. Typisch für diese beiden sowie für zahlreiche weitere mit "Ammenmärchen", "Kindermärchen" oder "Wintermärchen" betitelte Sammlungen ist die Vermischung von Märchen-, Sagen- und Legendenelementen mit Versatzstücken aus der in- und ausländischen Literatur der Zeit.
Vor allem die Romantiker in ihrer ausdrücklichen Hervorhebung des Wunderbaren und Übernatürlichen und der bewußten Durchbrechung von Kausalität und Erfahrung der Wirklichkeit wandten sich dem Märchenthema zu, wobei sie nicht allein traditionelle Märchenstoffe neu gestalteten oder in ihre Dichtungen einbanden, sondern selbst kunstvoll komponierte neue Märchendichtungen schufen. Das "ächte Märchen" mußte für die Romantiker "zugleich Prophetische Darstellung" sein, der "ächte Märchendichter (...) ein Seher der Zukunft", schrieb Novalis 1800 in einem Brief an Friedrich Schlegel.
Neben Novalis, dessen Roman Heinrich von Ofterdingen "allmälich in Märchen übergehen" sollte, spielten in der Märchenbegeisterung der Romantik vor allem Ludwig Tieck, Carl Wilhelm Contessa, Friedrich de La Motte-Fouqué und E.T.A. Hoffmann eine wichtige Rolle. Von den Heidelberger Romantikern um Achim von Arnim und Clemens Brentano führte dann ein direkter Weg zu den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm.
Link zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
Text: (c) 2004 by Bernhard Lauer